„Die Gesellschaft zusammenhalten und nachhaltig umbauen“

Interview mit Andreas Aust vom Paritätischen Gesamtverband

Bei der Wir haben es satt!-Demo am 21. Januar ist eine zentrale Forderung: Gutes Essen für alle! Wir haben mit Dr. Andreas Aust vom Paritätischen Gesamtverband über den Regelsatz für Essen gesprochen, über Ernährungsarmut in Deutschland und darüber, warum soziale und ökologische Fragen zusammengedacht werden müssen.


Herr Aust, wieviel ist im aktuellen Arbeitslosengeld-II-Regelsatz pro Tag für Lebensmittel vorgesehen?

Ein Erwachsener bekommt aktuell 449 Euro (2022). Ungefähr ein Drittel des Betrags ist für Ernährung und Getränke vorgesehen. Das sind etwa 155 Euro im Monat für eine alleinlebende Erwachsene.

Ändert sich daran durch das Bürgergeld grundlegend etwas?

Nein, durch die Einführung des Bürgergelds ändert sich bei der Ermittlung der Regelbedarfe nichts. Mit dem Bürgergeld wird allerdings die Anpassung an die Inflationsentwicklung verbessert, um einen weiteren Kaufkraftverlust zu vermeiden. Im Ergebnis wird der Regelbedarf um etwas mehr als 50 Euro auf 502 Euro erhöht, was eigentlich nur eine Kompensation für die aktuell stattfindende Inflation ist. Auf Lebensmittel bezogen sind das dann 174 Euro im Monat, also weniger als 6 Euro am Tag. Bei Kinder und Jugendlichen sind die Sätze noch niedriger.

Kann man sich von weniger als 6 Euro am Tag gesundes und umweltgerecht hergestelltes Essen leisten?

Nein, das ist nicht vorstellbar. Schon lange ist offenkundig, dass die Grundsicherung nicht ausreicht, um ein auskömmliches Essen zu finanzieren. Die Finanzierung entsprechender Warenkörbe ist in der Praxis nicht möglich. Das wissen im Prinzip auch alle Menschen, die regelmäßig einkaufen gehen. Mehrere Gutachten haben das mittlerweile umfänglich dokumentiert. Und aktuell ist es besonders schwierig, weil die Preisentwicklung bei den Lebensmitteln schon bei 20 Prozent liegt. Da reicht die Anpassung der Regelbedarfe um etwa mehr als 11 Prozent hinten und vorne nicht.

In letzter Zeit hört man öfters von Ernährungsarmut. Was ist damit genau gemeint?

Armut ist ganz allgemein gesprochen eine finanzielle Situation, die einem Menschen ein Leben nach den üblichen gesellschaftlichen Standards nicht erlaubt. Man unterschreitet wegen geringer finanzieller Mittel also das, was als gesellschaftlich akzeptabel und normal angesehen wird. Ernährungsarmut ist eine Form der Armut. Konkret heißt das, man ist finanziell nicht in der Lage, sich gesund und angemessen zu ernähren. Das ist die materielle Dimension der Ernährungsarmut.

Welche Dimensionen gibt es noch?

Darüber hinaus ist Ernährung aber auch ein soziales Ereignis. Es ist nicht nur die Zufuhr von Kalorien und Nährstoffen. Essen ist im soziologischen Sinne immer auch eine gemeinschaftsbildende Angelegenheit. Soziale Ernährungsarmut geht also über die reine Finanzierbarkeit von Nahrungsmitteln hinaus.

 

Andreas Aust ist Referent für Sozialpolitik beim Paritätischen Wohlfahrtsverband. Der promovierte Politikwissenschaftler beschäftigt sich bei dem Dachverband insbesondere mit Fragen der Armut und ihrer politischen Bekämpfung.

 

Wie verbreitet ist Ernährungsarmut in Deutschland?

Offizielle Daten zur Ernährungsarmut gibt es nicht. Man könnte sogar sagen, dass die Politik das Problem der Ernährungsarmut gar nicht zur Kenntnis nimmt. Es gibt jedenfalls keine offiziellen Statistiken zum Umfang von Ernährungsarmut hierzulande.

Der Wissenschaftliche Beirat des Landwirtschaftsministeriums hat 2020 ein Gutachten veröffentlicht. Darin ging es doch auch um Ernährungsarmut.

Genau. Die Autor*innen haben dargelegt, wie eine nachhaltige und sozial gerechte Ernährungspolitik aussehen müsste. Dabei haben sie auch festgestellt: Es gibt Ernährungsarmut in Deutschland und die bestehende Grundsicherung reicht nicht aus, um eine nach den offiziellen Standards empfohlene Ernährung zu finanzieren. Die Wissenschaftler*innen haben auch eingefordert, dass das Problem öffentlich zur Kenntnis genommen wird, etwa durch ein Monitoring. Das fehlt nämlich.

Was ist nach der Veröffentlichung des Gutachtens passiert?

Die Bundesregierung hat sich nach meiner Kenntnis den Vorschlag in keiner Weise zu eigen gemacht. Es steht also zu befürchten, dass wir das auch in Zukunft keine ausreichenden Daten zum Ausmaß von Ernährungsarmut haben werden. Die politischen Forderungen zur Neubemessung der Regelbedarfe wurden ignoriert.

Gibt es andere Möglichkeiten Ernährungsarmut zu messen?

Man kann sich anschauen, wie viele Menschen in Deutschland von einer Leistung leben, die von vielen als nicht ausreichend eingeschätzt wird, um eine vernünftige Ernährung zu finanzieren. Ich meine die Grundsicherung in ihren unterschiedlichen Facetten. Insgesamt sind etwa 9 Prozent der Gesellschaft auf diese Leistungen angewiesen. Dazu zählt die Grundsicherung im Alter, das sogenannte Hartz IV oder Grundsicherung für Erwerbsgeminderte. Diese Menschen haben allesamt ein Problem mit der Finanzierung ihres Alltags.

Die Tafeln sind schon lange an Rande der Belastungsgrenze, in diesem Jahr gab es vielerorts Aufnahmestopps. Welche Menschen rutschen durch die Inflation gerade in Ernährungsarmut?

Typischerweise gehen diejenigen zu den Tafeln, die Grundsicherung beziehen oder im Niedriglohnsektor arbeiten. Diese Menschen haben jetzt angesichts von Preissteigerungen von 20 Prozent bei Nahrungsmitteln Probleme, ihre Ernährung zu finanzieren. Die Gruppe, die jetzt auch zunehmend bei den Tafeln aufschlägt, sind Rentner*innen mit einer geringen Rente. Die eigentlich günstige Rentenentwicklung von 5 bis 6 Prozent bleibt weit hinter der Inflationsrate zurück, was in der Folge einen deutlichen Kaufkraftverlust bedeutet. Dazu kommen zunehmend auch geflüchtete Familien aus der Ukraine.

Die Tafeln übernehmen also die Aufgaben, die der Staat eigentlich erfüllen sollte?

Die Tafeln waren nie dazu gedacht, Ausfallbürgen für die staatliche Grundsicherung zu sein. Dabei ging es immer um ein zivilgesellschaftliches Engagement mit dem Ziel überschüssige, aber verwertbare Lebensmitteln zu sammeln und diese an bedürftige Personen weiterzugeben. Der Bedarf nach dieser Unterstützung ist in den letzten Jahren immer weiter gewachsen. In der Praxis müssen die Tafeln für unzureichende Grundsicherung und Renten einspringen. Mit dieser Rolle sind sie jetzt gerade in der Krise schlicht überfordert.

Welche sozialpolitischen Maßnahmen braucht es, damit sich alle Menschen auch in der aktuellen Krise gutes Essen leisten können?

Unsere zentrale Forderung als Paritätischer Gesamtverband ist eine höhere Grundsicherung. Wir brauchen statt 500 eher einen Betrag von gut 700 Euro im Monat. Mit diesem Geld könnte man einigermaßen leben. Außerdem brauchen wir Unterstützung für diejenigen, die knapp oberhalb der Grundsicherung liegen – etwa Menschen mit geringen Renten und Geringverdiener*innen. Eine Wohngelderhöhung, die auch steigende Energiepreise mit einbezieht, ist da eine wichtige Maßnahme. Das alles muss eingebettet sein in ein großes Investitionsprogramm, das die sozial-ökologische Transformation voranbringt. Kurzfristig lässt sich das über Kredite refinanzieren, aber mittelfristig und für die Finanzierung von Konsum-Ausgaben müssen wir auch an die großen Vermögen ran, also eine gesellschaftliche Umverteilung organisieren.

Im Oktober hat der Paritätische zusammen mit Gewerkschaften und Umweltorganisationen die „Solidarischer Herbst“-Demos ins Leben gerufen. Warum ist der Schulterschluss zwischen Sozial- und Umweltverbänden aktuell besonders wichtig?

Die Forderungen auf eine nachhaltige Produktions- und Konsumptionsweise umzustellen dürfen nicht gegen die sozialen Bedürfnisse ausgespielt werden. Gerade unter den Bedingungen der Krise ist das außerordentlich wichtig. Wir spüren die Krise hier seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine besonders an den gestiegenen Preisen für Energie und jetzt auch bei den Nahrungsmitteln. Vor diesem Hintergrund dürfen, die beiden Punkte Ökologie und Soziales nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir müssen trotz der Krise sowohl das eine als auch das andere machen: die Gesellschaft zusammenhalten und sie nachhaltig umbauen.


Das Interview führte Leo Schlichter, der ein Praktikum in der Öffentlichkeitsarbeit bei dem Wir haben es satt!-Bündnis absolviert.


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