Bundesregierung hat Ausstieg bewusst verschleppt
Jedes Jahr werden in Deutschland 20 Millionen Ferkel ohne Betäubung kastriert. Dieser Eingriff ist unheimlich schmerzhaft für die Tiere. Mit einer Ausnahmeregelung will die große Koalition nun das dringend nötige Verbot dieser Praxis kippen – und verteilt dem Landwirtschaftsministerium zugleich Hausaufgaben.
Eigentlich sollte das Ende der betäubungslosen Ferkelkastration, das bereits vor fünf Jahren im Tierschutzgesetz festgelegt wurde, zum 1. Januar 2019 in Kraft treten. Genug Zeit gab es also, um benötigte Veränderungen vorzunehmen und dem gesellschaftlichen Wunsch nach einem Umbau der Tierhaltung nachzukommen – sollte man meinen. Unter dem Vorwand einer zu kurzen Umstellungszeit plant die große Koalition mit einer Gesetzesänderung, diesen Beschluss Ende November wieder zu kippen. Die betäubungslose Ferkelkastration würde also für zwei weitere Jahre genehmigt. Umwelt- und Tierschutzorganisationen fordern angesichts dessen von der Bundesregierung, den geplanten Ausstieg aus der betäubungslosen Kastration einzuhalten, Bauernorganisationen sehen die Bringschuld bei Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner.
Aktuell werden in der Schweinemast den meisten männlichen Tieren bereits in der ersten Lebenswoche die Hoden entfernt. Der Grund für die Kastration liegt im Geruch des Fleisches: Das Unterbinden der Geschlechtsreife verhindert den Ebergeruch, der bei ungefähr fünf Prozent der Tiere auftritt und den Verbraucher*innen beim Erhitzen des Fleisches zumeist als unangenehm wahrnehmen. Der Eingriff ist für die jungen Tiere mit Leid verbunden, da sie bereits in den ersten Lebenstagen über ein voll entwickeltes Schmerzbewusstsein verfügen. Aber nicht nur unter der Kastration selbst, auch unter den Nachschmerzen leiden die Ferkel.
Kritik an Fristverlängerung
„Wenn die große Koalition das Ausstiegsdatum jetzt kippt, verspielt sie jede Glaubwürdigkeit über die Verbindlichkeit beschlossener Gesetze“, kommentiert Katrin Wenz die Pläne der Bundesregierung. Die BUND-Agrarexpertin merkt an, dass die Fleischindustrie jahrelang Zeit hatte, sich auf die angekündigten Änderungen einzustellen. Dennoch sei das Problem einfach systematisch ausgesessen worden. In einem offenen Brief wiesen neun Tier-, Verbraucher- und Umweltschutzverbände unlängst darauf hin, dass die Verlängerung der Übergangsfrist gegen das Staatsziel Tierschutz verstößt. „Die Fristverlängerung wäre verfassungswidrig“, bemerkte Jasmin Zöllmer von PROVIEH. Sie entbehre der verfassungsrechtlichen Grundlage der Unvermeidbarkeit, da praxisfähige Alternativen vorhanden sind.
Das Problem ist einfach systematisch ausgesessen worden
Alternative Methoden
Der Ausstieg wäre machbar, wenn die vorhandenen tierschonenderen Möglichkeiten flächendeckend angewendet würden. Bereits seit zehn Jahren erhalten Ferkel auf Neuland-Höfen während der Kastration eine Kurzzeitvollnarkose und Schmerzmittel für die Zeit nach dem Aufwachen. Bei dieser Variante mit Inhalationsnarkose werden die Ferkel in einem Narkosegerät fixiert. Dieser Vorgang, sowie der chirurgische Eingriff der Kastration selbst, verursacht weitaus weniger Stress bei den Tieren als die betäubungslose Methode.
Ohne Kastration kommt die sogenannte Jungebermast aus. Diese Haltung setzt aber ein angepasstes Haltungssystem voraus und erfordert damit einen Umbau der Ställe. Nicht-kastrierte Mastschweine erreichen schneller ihr Schlachtgewicht, sind jedoch kampflustiger als ihre kastrierten Brüder. Die sogenannten „Stinker“ werden letztendlich am Schlachtband aussortiert. Bereits jetzt werden 15-20 Prozent der männlichen Tiere in Deutschland in der Jungebermast gehalten. Mehrere Einzelhandelsketten bieten Fleisch aus dieser Haltung schon an und die Verkaufszahlen belegen, dass es zunehmend Anklang unter Konsument*innen findet.
Eine weitere Methode ist die Immunokastration. Hierbei werden die Tiere zwei Mal geimpft, um die Geschlechtsreife zu unterbinden. Damit sich dieser Vorgang lohnt, muss der Lebensmittelhandel allerdings den Bäuerinnen und Bauern die Abnahme des Fleisches garantieren. Ein klares Signal aus der Branche fehlt bisher, da immer noch Skepsis über das „Hormonfleisch“ herrscht. Aus wissenschaftlicher Seite sei der Impfstoff jedoch im Hinblick auf Lebensmittelsicherheit unbedenklich. Nach Einschätzung des BUND könnte der Einzelhandel mit entsprechenden Verträgen den Ausstiegstermin zum Jahresende gewährleisten.
Der sogenannte „vierte Weg“ ist die Lokalanästhesie durch die Landwirt*innen selbst. Er ist aus tierschutzfachlicher Sicht die schlechteste Alternative, da mehrere schmerzhafte Injektionen gesetzt werden müssen, die wiederum nur schmerzreduzierend wirken. Laut Tierschutzverbänden stellt diese Variante keine nachhaltige Verbesserung für die Tiere dar.
Rahmenbedingungen für eine schnelle Umsetzung
Die betäubungslose Ferkelkastration immer weiter fortzuführen, kann keine Lösung sein. Die Bundesregierung muss die gesellschaftliche Forderung nach einem Umbau der Tierhaltung endlich ernstnehmen und den Bäuerinnen und Bauern Planungssicherheit geben. Dass bewusst eine Situation geschaffen wurde, in der ein Wechsel jetzt zu kurzfristig erscheint, ist tragisch.
Auch die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) will die betäubungslose Kastration so schnell wie möglich beenden, sieht jedoch das Landwirtschaftsministerium zuvor in der Pflicht. Die bäuerlichen Sauenhalter*innen müssten so schnell es geht in die Lage versetzt werden, auf die betäubungslose Kastration der Ferkel zu verzichten, meint der AbL-Vorsitzende Martin Schulz. Dass Schwarz-Rot nun in seinem Gesetzentwurf der Ministerin Klöckner aufträgt, welche Schritte in den nächsten Monaten zu unternehmen sind, um einem Ausstieg näher zu kommen, begrüßt die Bauernorganisation ausdrücklich.
„Über fünf Jahre lang hat vor allem das Bundeslandwirtschaftsministerium diese Arbeit unterlassen“, bemerkt Schulz, der selbst einen Schweinemastbetrieb führt. Jetzt gelte es, die für die Betriebe möglichen Alternativen rechtlich so schnell wie möglich abzusichern. Das bedeutet, die entsprechenden Arzneimittel und Narkosegeräte in der Fläche verfügbar zu machen und die Praktiker*innen im tier- und sachgerechten Umgang zu schulen, damit sie die Techniken auch ohne Tierarzt selbst anwenden können.
Die Bundesregierung hat die Bäuerinnen und Bauern bislang im Stich gelassen. Jetzt muss es darum gehen, sie nicht weiterhin mit der Aufgabe allein zu lassen.
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